Wahrnehmen um zu heilen: Traumasensibles Yoga

Traumasensibles Yoga ist kein neuer Yoga-Stil. Es ist ein sehr achtsames und wahrnehmungsorientiertes Praktizieren des Yoga. Dabei werden alle Ebenen unseres Wesens (Körper, Gefühle, Geist, Präsenz...) benutzt als Wege zum inneren Anker, der inneren Stille, wo wir im Kern alle heil sind, wo wir - egal was wir erlebt haben – alle gesund sind.


Yoga unterstützt das Nervensystem

Traumatisierte Menschen erleben sich häufig von sich selbst und der Welt abgeschnitten.

Yoga, mithilfe von Körperhaltungen (Asanas), Atemübungen (Pranayamas) und Meditationen (Dhyanas), wirkt auf unser autonomes Nervensystems durch den ventralen Vagusnerv.
Dieser ermöglicht Verbindung, Ruhe und soziale Interaktion.

Dadurch wirkt Yoga genau gezielt auf das ein, was durch eine Traumatisierung gestört wurde.


Spüren, Verbindung erstellen, Rückkoppeln, mehr spüren, mehr Verbindungen erstellen, …

Aus Sicht der heutigen Wissenschaft ist Trauma eine körperliche Information.

Durch Yoga schaffen wir eine Verbindung, oder genauer gesagt eine Rückverbindung zu diesen Informationen (z.B. Gefühlen), die im Körper abgespeichert und die durch Trauma abgespalten wurden.

Dies geschieht nicht nur durch den gesamten Werkzeugkoffer des Yoga, sondern auch durch eine sehr bewusste, wahrnehmungsorientierte Yogapraxis, die das Kernstück des Traumasensiblen Yoga (TSY) bildet.

Es wird möglich, bis jetzt abgespaltene Ereignisse, Gefühle, Erkenntnisse, usw... ins Bewusstsein zurück zu holen, um sie da zu bearbeiten und zu integrieren.

Eine ganzheitliche Selbstwahrnehmung entsteht peu à peu. Sie ermöglicht es, immer mehr zu spüren und zu bearbeiten… schrittweise präsenter und lebendiger zu werden.


Wahrnehmen statt leisten

Das allerwichtigste Kriterium bei TSY ist, dass die Praxis wahrnehmungsorientiert ist und nicht leistungsorientiert.

Bei Leistung werden wir nicht eingeladen auf uns oder unseren Körper zu hören, sondern darüber zu gehen um etwas zu erreichen. (Durch Ansagen wie “Da ist noch was drin!”).

Im TSY geht es nicht um die perfekte Haltung. Es geht nicht darum, zu gehen wo wir hingehen müssen, sondern uns selbst wahr- und anzunehmen, genau wie wir sind und wo wir stehen.

Die Teilnehmer*innen werden häufig ermutigt, nur durchzuführen was sich gut anfühlt und wie es sich gut anfühlt; zu spüren, um im Kontakt mit sich selbst zu bleiben.

Es handelt sich um eine Millimeterarbeit, wo Schritte nie erzwungen, aber unterstützt werden, wenn sie stattfinden. Was von außen als minimale Änderung wahrgenommen werden kann, ist vielleicht von innen aus gesehen einen Riesenfortschritt.

Der Satz von Patanjali, der aus seiner Sicht den Kern der Yogapraxis beschrieb, bleibt immer noch aktuell: “Sthira sukham asanam” (vers 2.46 Yoga Sutra) Auf Deutsch: “Die Körperhaltung sollte stabil und angenehm sein” und dies gilt insbesondere beim TSY.


Nachspüren als zentraler Aspekt der Praxis

Das Nachspüren bekommt im TSY die gleiche Wichtigkeit wie die Ausführung einer Übung.

Hier wollen wir schulen, was macht was: welche Übung tut mir gut, welche nicht? Was hat gerade diese Übung in mir bewirkt? Was bedeutet genau „spüren“?

Durch Spüren und Nachspüren können wir feststellen, ob wir Grenzen überschritten haben. Das kann man genauer erforschen und erlernen.
Eine ganz wichtige Erfahrung im TSY ist: Im Gegenteil zu einem traumatischen Ereignis muss ich hier nichts aushalten: Ich darf selbst über meine eigenen Grenzen entscheiden.


Den inneren Beobachter praktizieren, um die Oberhand wieder zu behalten

Durch Spüren und Nachspüren wird der eigene innere Beobachter trainiert.

Der/die TSY Lehrerin sollte die Teilnehmerinnen ermutigen, bewertungsfrei Gefühle und Emotionen wahrzunehmen. Ganz genau wie eine Wissenschaftlerin sich erkundigt, was jetzt gerade passiert: “Habe ich jetzt viele Gedanken? Was ist genau dieses Gefühl, das in mir aufsteigt?…”

Wenn wir mehr und mehr diese innere Haltung einnehmen können, kann eine Distanz zu Gedanken und Gefühlen entstehen.
Dadurch entwickeln die Übenden sich von der Dominanz von “Ich bin nur dieser Gedanke, dieses Gefühl und werde damit überfordert” zu “Ich habe diesen Gedanken, dieses Gefühl UND ich bin mehr als das.”

Ich behalte die Oberhand und kreiere einen Raum in mir, in dem andere Erfahrungen möglich sind.


Ein Setting, um Grenzen und Ängste zu respektieren sowie Vertrauen aufzubauen

In TSY-Kursen sitzt niemand im Rücken von jemanden anderem: die Matten liegen üblicherweise im Kreis.
Es gibt auch keine “Hands on” Korrekturen: Der/die Lehrer*in verlässt nicht seine Matte und sorgt dafür, dass die Fluchtwege frei bleiben.

Der/die Lehrerin sollte durch seine/ihre Präsenz einen Raum entstehen lassen, der von Sympathie und Vertrauen gekennzeichnet ist. Darin können die Teilnehmerinnen zulassen, dass innere Zustände kommen und wieder gehen, dass alles sein darf ohne eine Einstellung von “Das muss weg” oder “Es muss sich ändern.”

Beide, Lehrerin und Teilnehmerinnen, wollen in erster Linie eine Würdigung dessen, was gerade präsent ist. Es geht nicht darum etwas wegzumachen, sondern die notwendige Unterstützung und Werkzeuge zu geben, so dass die Teilnehmer*innen damit sein können.

Auf diese Art können Verbindung, Rückkopplung und Integration stattfinden.


Werkzeuge zur Selbsthilfe in schwierigen Situationen (z.B. Trigger)

Da alles ein Trigger sein kann, ist es auch in einem TSY-Kurs nicht möglich Trigger absolut zu vermeiden. Auch wenn das Setting, der/die Lehrer*in und Übungen darauf eingestellt sind, dieses Risiko zu reduzieren.

Es geht hier auch darum, zu erlernen wie wir mit Triggern und schwierigen Situationen umgehen können. Zum Beispiel durch Atemübungen, die das Zwerchfell entspannen und dadurch eine schnelle Beruhigung bewirken können. Diese Techniken werden während des TSY-Kurses trainiert um im Alltag dann einsatzbereit zu sein.

Jedes Verdrängen, Ablenken oder Abspalten wird als Schutzfunktion verstanden (auch zu der Zeit der Traumatisierung).
Der/die Lehrer/in begleitet wirklich die Gefühle, die sich zeigen, u.a. durch die eigene bewusste Präsenz, und unterstützt die Teilnehmer*innen sie bewusst zu erleben.

Jeder Kontakt zu diesen Gefühlen kann ein Schritt auf dem Heilungsweg sein, weil nur dann die Chance von Rückkopplung und Integration ins Bewusstsein besteht.


Fazit

Yogische Körper-, Atem- und Meditationsübungen haben als Auswirkung die Steigerung der eigenen Wahrnehmung. Dadurch werden peu à peu abgespaltene Anteile unseres Selbst wieder ins Bewusstsein integriert und geheilt.

So kann Selbstwahrnehmung sich zu Selbstwirksamkeit und Regulationsfähigkeit entwickeln.
Der eigene Körper und die eigene Psyche werden wieder ein sicheres Zuhause.


Schatztruhe:

Ich freue mich sehr, die TSY-Ausbildung bei TSY-Dunemann/Weiser/Pfahl zu machen: www.traumasensiblesyoga.de
Buchtip: “Yoga in der Traumatherapie” von Weiser und Dunemann

Toller YouTube Kanal über Trauma: Dami Charf (auf Deutsch)

Buchtipps über den Vagusnerv: “Der Selbst-Heilungs-Nerv” von Stanley Rosenberg und “Die Polyvagal-Theorie” von Stefen W. Porges

Als ich diesen Blogpost fertig schreibe, hört meine 12-jährige Tochter das Song von Birdy „People help the people“ und ich finde es so passend, dass ich es hier nur erwähnen kann : )